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Dieter Vollbrecht

Dieter Vollbrecht 21 Jahre flüchtete am 5. Januar 1979 nach Steinstücken

Mein Bericht

Annemarie und ich hatten eine unruhige Nacht. Es war bitter kalt geworden. Die Temperatur rutschte auf mindestens -20° Celsius in der Nacht. Am Tag davor hatte es noch geschneit.
Um Mitternacht hörten wir vom B-Turm an der Bahnlinie laute Geräusche. Aus dem Turm konnte man nichts mehr beobachten, die Scheiben waren voll vereist. Der Eisendeckel der die Abstiegsleiter im Turm verdeckte schlug laut zu und wir ahnten, dass sich die Grenzer aus dem zugefrorenen Turm in den Erdbunker zurückgezogen hatten. Dieser Bunker war nur ein massiver Schutzraum mit Schießscharten und befand sich in ca. 50m Abstand vom Turm entfernt. Nach der Ablösung der Grenzer fuhr ein Wartburg um ca. 400 Uhr, in dem sich der OVD und ein weiterer Soldat befanden. Nun waren 4 Grenzer in dem kleinen Erdunterstand. Der Wartburg parkte parallel neben den Bahngleisen. Es war ca. 410 Uhr als der Güterzug langsam aus Drewitz kommend, durch das Loch in der Grenzbefestigung Richtung Wannsee fuhr.
Annemarie und ich schreckten hoch. „Was war das, waren das Schüsse aus einer MP“? fragte ich Annemarie, „keine Ahnung“ sagte sie und wir krochen wieder unter unsere Bettdecke. Kurze Zeit, es war nur wenig Zeit vergangen, klingelte es bei uns an der Tür. Wir schreckten ein zweites Mal hoch. Sollten das die Fahrer von der Meiereizentrale sein, die immer die Milchprodukte ohne zu klingeln vor unserer Haustür ablegten. Wollten sie vielleicht nur auf die Kälte aufmerksam machen, damit wir die Lieferung ins Haus nehmen sollten? Annemarie betrieb zu dieser Zeit noch den Lebensmittel-Laden.
Ich ging im Nachthemd zur Tür, öffnete, und vor mir stand ein junger Mensch im verschmutzten Anorak, blutigen Händen und hielt mir einen blauen Personalausweis der DDR vor. Mit zitternder Stimme sprach er, „ich bin aus der DDR geflüchtet.“ 

Sofort machte ich Platz und holte ihn ins Haus, da die Eingangstür vom Turm aus einzusehen war. Nun sah ich die Not. Er hatte sich an beiden Händen arg verletzt, aber die schlimmere Verletzung war am Fuß. Erst dachte ich an eine Schussverletzung, aber es war anders. Der Schuh war mit Blut verschmiert. Annemarie zog ihm den Schuh und den Strumpf vorsichtig aus und wir sahen ein Loch auf dem Rist aus dem es blutete. Wir bereiteten warmes Wasser und Annemarie tupfte die Wunde sauber und verband sie mit einer Mullbinde.
Jetzt erst kam uns die gesamte Tragik der Flucht zu Bewusstsein. Ich wählte die 110 sprach mit dem Diensthabenden und schilderte kurz die Situation. Es dauerte ca. 15 Minuten bis der Einsatzwagen der Polizei eintraf. Wenige Minuten danach waren auch die amerikanischen Militärpolizisten zur Stelle. Bei jeglicher Grenzverletzung mußten die Alliierten mit einbezogen werden.
In der Wartezeit bis zum Eintreffen der Polizei schilderte uns Dieter Vollbrecht kurz seine Flucht.
Er schlich sich gegen Mitternacht von der Dianastr.5, das Haus befand sich im Sperrgebiet, über das Grundstück bis an den Drahtzaun zur Bahnlinie. Es war zu der Zeit keine massive Mauer errichtet, nur mit Betonpfählen und gespanntem Stacheldraht. Dort wartete er in Deckung eines Komposthaufens auf den Güterzug, der fast jede Nacht gegen 400 Uhr an der Stelle vorbei kam. Als der Zug fast vorbei war überwand er den Stacheldrahtzaun und verletzte sich an den Händen. Der Zug hatte durch den Halt im Bahnhof Drewitz noch nicht recht Fahrt aufgenommen. Es wäre ein Leichtes gewesen auf den Zug aufzuspringen, aber er trat auf ein Nagelbett, genannt „Indisches Bett“, kam nicht mehr rechtzeitig los und der Zug fuhr ohne ihn weiter. Diese Indischen Betten konnte er nicht sehen, weil die voll mit Schnee bedeckt waren. Zurück konnte er nicht mehr, denn gegenüber vom Bahndamm befand sich der Erdbunker und er wäre beim Zurücklaufen entdeckt und verhaftet worden. So traf er die für ihn einzig richtige Entscheidung. Er krabbelte sich hoch und rannte auf einer Schiene des Gleises ca.60m in Richtung Steinstücken durch die Öffnung in der Mauer. Sein Gelingen der Flucht war von mehreren Faktoren günstig bestimmt.
1. Der B-Turm an der Bahn war nicht besetzt
2. Es waren in dem kleinen Erdunterstand vier Soldaten die in ihrer Bewegungsfreiheit sehr eingeengt waren
3. Der Wagen des OVD (Offizier vom Dienst) stand in der Schusslinie zum Flüchtling
4. Das Schießen in Richtung West Berlin war verboten
Aber doch schossen die Grenzer einige Salven, sie trafen nicht. Gott sei dank. Dieter Vollbracht sah bei uns im Haus in der oberen Etage Licht. Unsere im oberen Geschoß wohnende Frau Thormeyer hatte ein anderes Schlaf- Wach- Verhalten. Sie war zu dieser Zeit immer wach. Somit war seine Richtung ab diesem Zeitpunkt vorbestimmt.
Die Berliner Polizisten kamen, erkannten sofort die Situation, legten einen Persenning um ihn und führten ihn zum Polizeifahrzeug, setzten ihn auf den Boden des VW-Transpoters, mit der Maßgabe unten zu bleiben, da sie nochmals von dem Beobachtungsturm an der Zufahrtsstraße beobachtet werden könnten. Der Wagen fuhr in Richtung Kohlhasenbrück und direkt in das Behring Krankenhaus in Zehlendorf.
Ich schaute ihnen nach und drehte mich zu dem B-Turm an der Bahnlinie um. Mich starrten einige mit Ferngläsern und Fotoapparaten bewaffnete hohe Offiziere durch die hochgeklappten Fenster an. Die Beobachtung blieb aber ohne Konsequenzen für uns. Am nächsten Tag kam ein Franzose zu Annemarie in den Edeka-Laden und erkundigte sich nach Dieter Volbrecht. Er wollte ihn im Krankenhaus besuchen. Annemarie beschrieb ihm den Weg und gab ihm einige Flaschen Saft mit Grüßen von uns auf den Weg.
Der Fluchtweg von Dieter Volbrecht wurde wenige Tage nach seiner Flucht mit einer massiven Mauer auf beiden Seiten der Bahnlinie versperrt.
Einige Zeit später besuchte uns Dieter Volbrecht in Steinstücken und erzählte uns, dass er eine Einladung des Franzosen nach Paris angenommen hatte, aber sein Vater ein NVA Major war wegen seiner DDR-Flucht degradiert worden. Das war in der bewegten Zeit die reinste Sippenhaft.

GK/79

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