März 1972
Ich bin beim Schwiegervater (Gerhard C.), genannt „Opa“ und wir besprechen unseren Kauf des Hauses in Steinstücken. „Ihr seid aber mutig, aber wo liegt denn Steinstücken“? Ich sage „Vater das weißt du nicht! Es ist zu entschuldigen, ich wusste es bis vor ein paar Tagen auch nicht“. Also erkläre ich ihm die Lage des Ortsteils von Zehlendorf / Wannsee. Der Ortsteil liegt im Hoheitsbereich der DDR und kann nur durch zwei Kontrollposten mit Einreiseberechtigung oder eingetragener Wohnung im Ausweis dorthin erreicht werden. Vater sinniert. „Ja ich würde gerne mal ansehen, was ihr gekauft habt, aber einen Antrag auf einen Besuch stelle ich nicht, weil es mir zu riskant ist. Ich bin immer noch ein Staatsfeind der DDR.“
Man muss wissen, dass mein Schwiegervater wegen staatsfeindlicher Volkshetze von 1953 bis 1956 in DDR-Gefängnissen eingesessen hatte und von der Bundesrepublik Deutschland frei gekauft wurde. Die verhängte Strafe lautete „Zehn Jahre Haft“.
Wir beide schmieden einen Plan ihn doch für eine kurze Zeit ein- und wieder auszuschmuggeln. Bei dieser Überlegung kommt mir eine beobachtete Situation an der Grenze zugute. Ich bemerkte, dass nur Personenkraftwagen kontrolliert, aber keine Lieferwagen nach „Menschenschmuggel“ durchsucht werden.
Ich bin bei einem Elektrohandel tätig und kann mit einem Firmenwagen nach Steinstücken fahren. So nehme ich an einen der folgenden Tage einen großen Farbfernseh-Karton aus einer anderen Kunden-Lieferung mit nach Hause.
Nun wird es spannend. Ich fahre am Donnerstag den 9. März um Zehn Uhr zum Opa, er ist immerhin schon sechzig Jahre alt und arbeitet in der Spinnstofffabrik Zehlendorf im Schichtdienst. Er hat Nachtschicht und ist schon wieder auf. Wir probieren den Karton aus, ob er für ihn groß genug ist. Die oberen Kartonteile lassen sich sauber schließen, ohne dass sie ausbeulen. Es soll ja so aussehen als würde ich einen neuen Farbfernseher ausliefern. Er stimmt sofort zu, die Einreise im Fernsehkarton mit zu machen. Wir machen uns auf den Weg. Auf der Straße durch den Kohlhasenbrücker Wald halte ich an und mein Schwiegervater klettert in den Karton. Den Originalzustand stelle ich durch Zukleben des Kartons mit Blaupunkt Klebeband wieder her.
Nun geht es zum Schlagbaum „ Kontrollpunkt Kohlhasenbrück“. Ich halte am geschlossenen Schlagbaum, der Wachhabende DDR-Soldat kontrolliert meinen Ausweis, schaut durch die Fenster in den Laderaum des VW Transporters und lässt mich passieren. Nach kurzer Transitfahrt durch den Wald der Parforceheide stehe ich vor den Schlagbaum kurz vor Steinstücken. Es läuft wieder die gleiche Prozedur ab wie vor ein paar Minuten ohne Beanstandung und wir sind nach ein paar Metern in Steinstücken.
Nun muss ich so halten, dass von den B-Türmen der Wagen nicht gesehen wird und Opa klettert aus den Karton.
Die Besichtigung des Hauses und des Gartens gleicht einer großen Euphorie für meinen Schwiegervater. Er ist begeistert, drängt aber nach kurzer Zeit zur Rückfahrt. Nach dem kurzen Aufenthalt brechen wir wieder auf. Er klettert wieder in den Karton und diesmal klebe ich den Karton nicht zu. Es soll ja so aussehen als hätte ich geliefert. Es müssen dieselben Grenzer am Schlagbaum stehen, die uns vor einer Stunde durchgelassen haben, sie werden gegen Mittag abgelöst. Es geht alles glatt und wir sind wieder in West Berlin. Diese Aktion ist im Nachhinein gesehen sehr riskant und auch leichtsinnig gewesen. Aber was macht man nicht alles um einem Menschen einen Wunsch zu erfüllen.
GK/72